von Julika Moos
Im letzten Semester wagte ich ein Experiment: Ich bot ein Vertiefungsseminar in der germanistischen Mediävistik an, in dem ein über 21.000 Verse umfassender mittelhochdeutscher Roman gelesen und besprochen werden sollte. Das ist für ein Mediävistik-Seminar zunächst nicht ungewöhnlich – vor allem im höheren Semester können wir den Studierenden durchaus größere Textmengen zumuten.
Die spezifische Herausforderung war allerdings, dass der Roman nicht – wie viele der anderen Texte, mit denen wir in der Lehre hauptsächlich arbeiten – in einer neuhochdeutschen Übersetzung vorliegt. Obwohl der Text unter Forschenden bekannt ist, bleibt er für Studierende recht unzugänglich und wird in der Lehre kaum behandelt. Tatsächlich gibt es zu Konrads von Würzburg Roman nicht mal einen Wikipedia-Artikel!
Mir war also sehr bewusst, dass ich die Studierenden nicht nur mit einem umfassenden Primärtext herausfordere, sondern auch mit einer schwierigen Lektüre konfrontiere, die sie vermutlich öfter mal an ihre Grenzen bringen würde: Gereimte Verse, eine ältere Sprachstufe und unbekannte Ausdrücke sorgen oft schon für Verwirrung, selbst wenn eine neuhochdeutsche Übersetzung zur Verfügung steht.
Ich brauchte also unbedingt einen Weg, um Lektüre, Besprechung und Analyse dieses mittelhochdeutschen Romans für die Studierenden zugänglicher zu machen.
Dazu benutzte ich das Kreativtool Miro. Das Hauptfeature dieses Tools ist ein digitales Whiteboard, auf dem sich zahlreiche unterschiedliche Gestaltungsformen anbringen lassen.
In der ersten Seminarsitzung stellte ich Miro als ein gemeinsames Seminarprojekt vor, das wir im Lauf des Semesters gemeinsam befüllen würden. Weil das Tool (bisher) nicht DSGVO-konform ist, holte ich das Einverständnis der Studierenden ein, dieses Tool dennoch gemeinsam zu nutzen. Die Nutzer*innen des gemeinsamen Whiteboards meldeten sich mit einer Email-Adresse an; ohne Anmeldung und spezifischen Einladungslink kann das Board nicht eingesehen oder verändert werden.
Ich widmete jedem im Seminar gelesenen Textabschnitt eine dezidierte Sektion in unserem Whiteboard. In jeder dieser Sektionen zu einem Textabschnitt brachte ich ein großes Feld an, in das visuelle Assoziationen zur gelesenen Textpassage eingefügt und die Studierenden so aktiv zur kreativen Mitarbeit angeregt werden sollten. Ich gab den Studierenden dazu – wie in literaturwissenschaftlichen Seminaren üblich – einen jeweils konkreten zu lesenden Textabschnitt vor und bat sie, als Teil ihrer Vorbereitung für die Sitzung, in der dieser Romanauszug behandelt werden sollte, passende Fotos herauszusuchen, die diese Szene bildlich beschreiben könnten, um diese dann im Board zu teilen.
Diese visuelle Annäherung an den Romaninhalt brachte in vielerlei Hinsicht Vorteile mit sich: Für die Studierenden wurde so deutlich, dass sie bei ihrer Lektüre nicht jedes Wort verstehen mussten, sondern dass es ausreichte, z.B. ein Bild von einem Schiff im Mondschein herauszusuchen, wenn sie diesen Aspekt der verstanden und als bedeutend erkannt hatten. Das Bildersuchen hatte damit gleichzeitig etwas Spielerisches, das die Angst vor diesem umfangreichen und sicher teilweise unverständlichen Text deutlich reduzierte. Sobald die ersten Seminarteilnehmer*innen ihre Bilder eingefügt hatten, funktionierten diese wiederum als Absicherung für diejenigen, die erst etwas später mit der Lektüre beginnen konnten: Die Bilder der anderen sorgten, so mein Eindruck, für Rückversicherung dessen, was verstanden wurde und trugen so zu einem selbstbewussten Umgang mit dem Text bei.
Die Bilder-Collage in unserem gemeinsamen digitalen Whiteboard half gleichzeitig dabei, dass ich in meiner eigenen Vorbereitung auf die einzelnen Seminarsitzungen sehr viel besser antizipieren konnte, wie viel die Studierenden von der zu lesenden Textpassage verstanden hatten und wie viel Zeit wir brauchen würden, um über die Passsage zu sprechen. Es bereitete mir selbst richtig Freunde, im Lauf der Woche immer mal wieder ins Board zu schauen, ob unsere gemeinsame Collage mittlerweile wieder gewachsen war und festzustellen, dass die Studierenden doch deutlich mehr verstanden, als ich anfangs zu erwarten gehofft hatte.
Am Ende des Semesters fügten sich die einzelnen Bilder-Collagen zu einer visuellen Timeline des Romans zusammen: Weil ich Freifelder für die Bilder-Sammlungen in der Planung des Boards nebeneinander angebracht habe, stellen sie nun eine Art visuellen Zeitstrahl dar, mit dem sich die Handlung des Romans visuell rekapitulieren lässt. Gerade für jene Studierenden, die jetzt eine Hausarbeit schreiben, dürfte der Mehrwert dieser visuellen Inhaltszusammenfassung äußert hilfreich sein, wenn sie eine bestimmte Textstelle suchen, sie aber in den tausenden von Versen nicht auf Anhieb finden können. Die Orientierung im Text anhand der gemeinschaftlich erstellten Bilder-Collagen dürfte den Studierenden deutlich leichter fallen.
Zusätzlich zu der jeweiligen Bilder-Collage richtete ich für jede Sitzung spezifische Felder für Rückmeldungen ein, in denen digitale Notizzettel angepinnt werden konnten: Es gab eine Ecke für allgemeine Beobachtungen zum Textabschnitt, in denen wir etwa besonders wichtige Zitate, den Auftritt neuer Figuren oder kurze Paraphrasen essenzieller Teilabschnitte der Handlung sammelten. Eine weitere Ecke war Problemen und Ungereimtheiten im Text gewidmet: Hier konnten schwer verständliche Worte oder Textphrasen gesammelt werden, die ich oft auch vor der Sitzung im Board beantwortete. Ein weiteres Feld war als Ideenspeicher für Themenwünsche gedacht: Wenn den Studierenden etwas aufgefallen war, über das sie gerne sprechen wollten, konnten sie diese Ideen dort sammeln, sodass wir sie dort nicht aus dem Auge verlieren würden. Nach der ersten Sitzung bemerkte ich, dass man die Annäherungen an den Inhalt auch noch weiter visualisieren könnte und richtete für jede Sitzung außerdem eine zusätzliche Meme-Corner ein, in der lustige Adaptionen der Romanhandlung geteilt werden konnten.
Um die Studierenden zur aktiven gemeinsamen Beiteilung an unserer digitalen Tafel zu ermuntern, verzichtete ich darauf, alternatives Material wie Präsentationen zu benutzen, weil diese eine eher passive Rezeption nach sich zögen. Stattdessen ermunterte ich die Studierenden, auch in den Seminarsitzung mal ein Bild in das Board einzutragen: Eine Studentin verglich etwa die handlungslenkende Darstellung einer Figur mit dem Film „Die Truman Show“, sodass wir – weil der Vergleich so passend war – in der Seminardiskussion live ein Bild des Filmplakats in unsere Collage einfügten, um einen kleinen Insider-Witz zu etablieren und dieses Diskussionsergebnis direkt zu sichern.
Das Miro-Board wurde damit zu einer interaktiven Tafel: Ich begann die Sitzungen jeweils mit einer Rekapitulation der Dinge, die wir in der letzten Sitzung eingefügt hatten und schwenkte dann zur Bilder-Collage der aktuellen Sitzung. Die Bilder boten gerade für die Eröffnung der Sitzungen immer einen niedrigschwelligen Aufhänger, um über den Text ins Gespräch zu kommen. Studierende, die vielleicht ungern schon zum Beginn der Sitzung übergreifende Fragen zum Text beantworten wollten, konnten so erst einmal erzählen, warum sie welche(s) Bild(er) ausgewählt hatten, um den Textabschnitt zu visualisieren.
Außerdem ging die Aufbereitung aller Seminarinhalte an einem einzigen Ort auch mit einem ganz praktischen Aspekt für mich einher: Wenn wir in einer Diskussion auf einen Punkt einer vergangenen Sitzung zu sprechen kamen, musste ich nicht erst die entsprechende Präsentation heraussuchen, sondern konnte im Whiteboard in Sekundenschnelle zu den früheren Sitzungsergebnissen zoomen.
Überhaupt stellte sich das Miro-Board als wichtiger Bestandteil der Ergebnissicherung im Seminar heraus: Die Ergebnisse von Gruppenarbeiten, die Zusammenfassungen von Seminar-Diskussionen im Plenum, die zentralen Thesen der Referate und die individuellen Höhen und Tiefen von der Beschäftigung mit dem Roman von lustigen Memes hinzu rätselhaften Vokabeln finden sich nun als (überaus!) bunte Mischung auf einen Blick in unserem gemeinsamen Whiteboard. Weil sich in den Textfeldern auch Hyperlinks einfügen lassen, ist unsere Ergebnissicherung damit multimedial geworden: Einschlägige Forschungsliteratur ist dort genau verlinkt wie Wikipedia-Artikel oder YouTube-Tutorials oder der „Truman Show“-Filmtrailer. Mit dieser multimedialen Ergebnissicherung lässt sich unsere Seminar-Diskussion über die poetische Bedeutung des Vergleichs, den der Dichter mit einer Nachtigall vornimmt, nicht nur anhand unserer digitalen Notizzettel, sondern auch des dort verlinkten Sound- und Bildbeispiels einer Nachtigall audiovisuell sehr unkompliziert wieder in Erinnerung rufen.
Ein Blick in die anonyme Evaluation meines Seminars zeigt, dass die Studierenden sowohl das gemeinsame Sammeln im Board als auch dessen Funktion, Ergebnisse für die Nachbereitung zu sichern, äußerst hilfreich fanden. Die Studierenden schrieben etwa:
Auch wenn die Pflege des Boards einen zusätzlichen Betreuungsaufwand für mich bedeutete, weil ich natürlich schon darauf achten musste, dass sich dort keine falschen Informationen festsetzen, hat sich diese zeitliche Investition für mich auf jeden Fall rentiert. Und nach dem durchweg positiven studentischen Feedback zu urteilen, bin ich überzeugt, dass ich diese Art der kollaborativen Arbeit mithilfe eines digitalen Whiteboards in der literaturwissenschaftlichen Lehre unbedingt beibehalten werde, weil sie – auch aus Sicht der Studierenden – merklich zu besseren Diskussionen und einem reflektierenden Umgang mit dem Roman beigetragen hat, bei dem auch die Freude bei der Arbeit mit dem Text nicht zu kurz kam.
Julika Moos, im Wintersemester 2022/2023 Lehrbeauftrage am Seminar für deutsche Philologie der Georg-August-Universität
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