von Julika Moos
Als ich die Treppe zu Saras Wohnung im Dachgeschoss hinaufsteige, ist mir ganz schön flau im Magen. So etwas habe ich noch nie gemacht: Ich gehe ganz alleine auf eine WG-Party, bei der ich wirklich nur eine der WG-Bewohnerinnen kenne. Und eigentlich kenne ich auch Sara kaum.
Wir haben zusammen ein Referat in Theologie gehalten und sind bei der Vorbereitung ein bisschen ins Quatschen gekommen. Sara studiert im 6. Semester Religion auf Grundschullehramt; ich bin eher zufällig in dem Seminar zur frühen Kirchengeschichte gelandet. Trotz unserer unterschiedlichen Perspektiven lief unsere Zusammenarbeit für das Referat ganz gut, sodass Sara mich auf die Party in ihrer WG eingeladen hatte.
Ich war mir lange unsicher, ob ich wirklich hingehen soll und bereue meine Entscheidung jetzt fast ein bisschen, als ich die Musik durch die Wohnungstür dringen höre und mich frage, wie ich mich denn dort gleich verhalten soll. Aber ich hatte mir einen Ruck gegeben und Sara zugesagt, weil ich wusste, dass ich so eine Chance wohl nicht noch einmal bekommen würde.
Ich war mittlerweile nämlich seit einigen Monaten an meiner neuen Uni und Saras Einladung war die erste, die ich in dieser Zeit bekommen hatte. Anfang Oktober war ich in die kleine Uni-Stadt gezogen, um meinen Master zu beginnen. Ich hatte mir große Hoffnungen für diesen Neustart gemacht: Eine neue Hochschule, neue Kommiliton*innen, neue Inhalte, neue WG. Alles aufregend und voller Potenzial.
Aber die Ernüchterung folgte schnell: In meinem Master-Studiengang sind wir nur zu acht. Meine Kommiliton*innen kennen sich schon länger, weil sie bereits ihren Bachelor zusammen gemacht haben. Sie pendeln alle aus dem Umland in die Stadt und belegen einen anderen thematischen Schwerpunkt, darum überschneiden sich unsere Lehrveranstaltungen kaum.
Ich stelle mir meinen Stundenplan aus Veranstaltungen, die mich inhaltlich interessieren, zusammen. Aber auch dort bin ich immer außen vor: Die anderen Studierenden in den Kursen, die ich mir aussuche, sind oft noch im Bachelor. Ich kann die Kurse nur deshalb belegen, weil ich Sonderregelungen mit den Dozierenden aushandle und zum Beispiel längere Hausarbeiten schreibe als die anderen, weil ich im Master mehr Creditpoints brauche. Nicht nur diese Organisation ist anstrengend – auch dass ich in diesen Veranstaltungen für Bachelor-Studierende inhaltlich oft völlig unterfordert bin, nimmt mir die Freude an den Gegenständen.
Die freie Wahlmöglichkeit, mir Veranstaltungen sämtlicher Fächer flexibel zusammenzustellen, war einer der Gründe, warum ich mich – nachdem ich mich in ganz Deutschland auf Masterstudiengänge beworben hatte – für diesen Studiengang entschieden hatte. Aber ich hatte nicht bedacht, wie viel Energie es kosten würde, diese ganzen Anrechnungen zwischen Dozierenden und Prüfungsamt selbstständig zu klären. Weil der Studiengang so klein ist und irgendwie unter dem Radar läuft, gibt es keine zentrale Anlaufstelle oder eine Studiengangskoordination. Eine Einführungswoche für Masterstudierende gab es natürlich auch nicht, darum weiß ich gar nicht, ob ich wirklich die Einzige bin, die ihr Studium so zusammenbastelt. Es ist einfach zur Gewohnheit für mich geworden, vor jeder ersten Sitzung zu den Lehrenden zu gehen, um sie zu fragen, ob sie ihre Lehrveranstaltung für mich freigeben lassen können.
Dass es keine Einführungswoche gab, macht sich auch in meinem restlichen Uni-Alltag bemerkbar. In die Bibliothek traue ich mich kaum, weil die mit großen Schrauben verstellbaren Regale mir zu unheimlich sind. Die Recherche-Computer in der Bibliothek laufen auf Linux und ich bekomme es einfach nicht hin, Dateien auf meinen USB-Stick zu übertragen. Und auch in die Mensa gehe ich nur selten: Es gibt einen Automaten, an dem man sich Papiergutscheine kaufen muss, um damit dann in der Mensa für das jeweils vorab ausgewählte Essen zu bezahlen. Ich verstehe nicht, wie diese Vorauswahl am Automaten funktioniert und ich weiß nicht, wen ich dazu fragen kann. Nur den Salat von der Salatbar kann man in der Mensa ohne Papiergutschein bekommen, weil er an der Kasse abgewogen wird; darum ist die Salatbar meine Notlösung, wenn ich doch mal dort lande. Auch in der Cafeteria kann ich zum Glück mit Bargeld bezahlen, darum ist mein Mittagessen oft ein Stück Rhabarberkuchen – in der Cafeteria fühlt es sich außerdem nicht ganz so komisch an, alleine mit einer Zeitschrift da zu sitzen.
Irgendwie fehlt mir die Kraft, mein Mensa-Problem eigenständig zu lösen. Vielleicht bin aber auch einfach nur enttäuscht darüber, dass ich einfach alles alleine herausfinden muss und wünsche mir, dass mich wenigstens in einer Sache mal jemand an die Hand nimmt und mir erklärt, wie diese für mich fremde Universität funktioniert. Die rabiate Antwort des Busfahrers, den ich nach meinem allerersten Tag in der Stadt gefragt hatte, wie ich denn von der Uni wieder zurück in die Innenstadt komme, hat scheinbar die Stimmung für alles in diesem Studium festgelegt: „Lies doch das Schild!“ – Hilfe und Antworten finde ich auf dem Campus offensichtlich nur, wenn ich mich selbst dahinterklemme.
Meine beiden Mitbewohner*innen treffe ich nie an der Uni. Wir kommen ganz gut klar, aber unser Alltag sieht sehr unterschiedlich aus: Daniel ist etwas älter als ich und macht einen Abschluss in BWL in seinem Zweitstudium. Eigentlich geht er aber nie an die Uni, sondern hängt mit seinen Kumpels ab oder bei seinem Nebenjob in einer Brauerei. Er und seine Jungs bleiben unter sich, schauen Bundesliga in Daniels Zimmer oder gammeln rauchend auf unserem Küchensofa. Meine Mitbewohnerin Saskia ist jünger als ich, sie studiert im dritten Bachelor-Semester. Sie ist lieb, aber sehr heimatverbunden: Die meisten Wochenenden verbringt sie bei ihrer Familie oder ihren Freundinnen aus der Schulzeit. Mir war es sehr wichtig für meinen Neuanfang gewesen, nicht in eine Zweck-WG zu ziehen, darum waren wir sogar ein-, zweimal zu dritt feiern. Aber irgendwie passt es zwischen uns nicht so wirklich. Saskia und ich kochen manchmal zusammen oder gehen zusammen schwimmen, aber Daniel und ich sind einfach nicht so ganz auf einer Wellenlänge.
In meinem Bachelor-Studium war es mir leichtgefallen, sowohl in meiner WG als auch in meinen Studienfächern guten Anschluss zu finden. Vielleicht war das ja Glück und ich muss meinem Glück in der neuen Stadt noch weiter auf die Sprünge helfen? Ich meldete mich darum schon gleich im ersten Mastersemester für einen Hochschulsport-Kurs an: Stepaerobic. Aber ich merkte schnell, dass solche Sportkurse – vor allem, wenn sie am Freitagabend stattfinden – eher in Gruppen von Leuten besucht werden, die sich schon kennen. Irgendwie war das also nicht der richtige Weg, um Anschluss zu finden.
Wenn es der Sport nicht sein sollte, dann vielleicht die Musik: Ich wurde zeitgleich Mitglied im Universitätschor. Doch obwohl wir wöchentlich zusammen probten und zum Ende des Wintersemesters ein Konzert im Stadttheater gaben, kam ich im Chor kaum mit jemandem ins Gespräch. Selbst als wir nach dem erfolgreichen Konzertabend noch gemeinsam in ein chinesisches Restaurant gingen, blieben mir von diesem Abend hauptsächlich die aufwendig geschnitzten Holzvertäfelungen des Restaurants und ein paar hölzernere Gesprächsfetzen in Erinnerung.
Es war wie verhext. Nicht einmal Exkursionen in meinen Veranstaltungen sorgten dafür, dass ich Kontakt zu meinen Kommiliton*innen aufbauen konnte: Während die Exkursionen in meiner Bachelor-Zeit von chaotischen Zugfahrten, Bier-Abenden und Insider-Witzen geprägt waren, lachte hier niemand mit mir, als ich ein Referat vor Rembrandts berühmter „Heiliger Familie“ hielt und dabei vor Aufregung so wild gestikulierte, dass ich den Alarm des Museums auslöste. Ich war bei allen Angeboten dabei; reiste mit, um ein Verlagshaus in Köln zu besuchen oder um moderne Kunst in Bochum anzuschauen, aber mein Kennenlernen beschränkte sich immer nur auf neue Orte.
Das Theologie-Referat mit Sara war darum ein glücklicher Zufall, mit dem ich nach diesen ganzen Erlebnissen schon fast nicht mehr gerechnet hatte. Also hatte ich ihr gesagt, dass ich wirklich alleine auf ihre WG-Party kommen würde, auch wenn mich das riesige Überwindung kostet. Ich hole tief Luft, als ich den länglichen Flur runter Richtung Küche gehe. In dem kleinen Raum mit Dachschräge steht auf einem schmalen Regal der Laptop, aus dem die Musik tönt. In der WG-Küche – da, wo die Musik spielt und die Getränke sind – finde ich ja vielleicht am ehesten einen Weg, um ein Gespräch mit einer zukünftigen Freundin zu beginnen.
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